Konzeptionspapier Empirische Polizeiforschung im AKIS

 

Ad-hoc-Gruppe Empirische Polizeiforschung in der DGS
Interdisziplinärer Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS)

Druckversion als PDF-Datei

Marburg / Essen, den 02.05.2002

AKIS im Internet: www.AK-Innere-Sicherheit.de




Empirische Polizeiforschung:
Der Strukturwandel des ‚Polizierens‘ aus der Sicht der Polizierenden

Antrag auf die Einrichtung einer Ad-hoc-Gruppe zum Soziologie-Kongress 7.-11. Oktober 2002 in Leipzig

Der Antrag wurde vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) im April 2002 bewilligt.

Antragsteller: Dr. Susanne Krasmann, PD Dr. Hans-Jürgen Lange, Prof. Dr. Karlhans Liebl, PD Dr. Thomas Ohlemacher, Prof. Dr. Jo Reichertz, PD Dr. Norbert Schröer

Die Wechselwirkung zwischen den Entstaatlichungstendenzen und den Modifikationen des sozialen Sicherheitsgefüges in unserer Gesellschaft – die auf dem Soziologie-Kongress 2002 in Leipzig zur Sprache kommen soll – lässt sich auch mit Blick auf den zu beobachtetenden Strukturwandel der sozialen Kontrolle im allgemeinen und dem des Polizierens im besonderen erkennen. Die Maßnahmen, die im besonderen zur Herstellung von Innerer Sicherheit ergriffen werden, sind zunehmend geprägt von Privatisierung- und Entgrenzungsprozessen.
Als Ausgangspunkt für diesen Wandel können der Abbau des Sozialstaates infolge der Umsetzung neoliberaler Politikkonzeptionen, aber auch Veränderungen im Sicherheitsgefühl der Bürger gelten: das Zutrauen in die Organe der öffentlichen Sozialkontrolle hat rapide abgenommen. So wird eine wohlfahrtsstaatlich orientierte Sicherheitspolitik mehr und mehr ersetzt durch ‘pragmatische’ Sicherheitskonzepte und durch die mit ihnen einhergehenden Problem-Management-Strategien. Da, wo wohlfahrtsstaatliche Gesichtspunkte im Vordergrund bleiben, werden sie häufig unterschwellig durchdrungen von Wirtschaftslichkeitserwägungen. Das Sicherheitsgefühl der Bürger soll über eine Ausweitung der sozialen Kontrolle hin auf die Prävention wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.
Diese Tendenzen einer gewandelten Sicherheitspolitik finden insgesamt ihren Ausdruck in einer zunehmenden, teils einander ergänzenden, teils sich ersetzenden und teils sich widersprechenden

  •   Privatisierung,
  •   Informalisierung,
  •   Kommerzialisierung,
  •   Ausweitung,
  •   Intensivierung
  •   und Kommunalisierung
der sozialen Kontrolle und des Polizierens. So nimmt seit dem Ende der 70er Jahre die Bedeutung privat-kommerzieller Sicherheitskräfte (Wach- und Sicherheitsunternehmen, Privatdetekteien etc.) erheblich zu; seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre gründen und etablieren sich dann von staatlicher Seite gefördert mehr und mehr bürgervigilante Einrichtungen und Vereinigungen (Polizeireserven, Sicherheitswachten und Nachbarschaftsvereinigungen); etwa zur gleichen Zeit entstehen auch die ersten von den Kommunen eingerichteten Kriminalpräventiven Räte; und auch die Maßnahmen zur Informalisierung des Strafrechts (Polizeidiversion, Täter-Opfer-Ausgleich etc.) werden in dieser Zeit ausgearbeitet und dann in die Strafrechtspraxis integriert. High Technology liefert die Möglichkeit, öffentliche Plätzen und Parks, Fußballstadien und Flughäfen permanent und lückenlos zu scannen und zu prüfen. Low Technology (Walkie-Talkies, Internet) schafft dagegen die Möglichkeit, dass Bürger nachts Straßen patrouillieren oder Anwohner eines Stadtviertels Netzgemeinschaften bilden.
Im ganzen betrachtet nimmt im Rahmen einer so gewandelten Sicherheitspolitik der Umfang der sozialen Kontrolle und die Intensität innerhalb des Handlungsfeldes ‚Polizierens’ zu: ‘Polizieren’ meint hier (in einer ersten begrifflichen Annäherung) das gesamte staatliche, private, von Kommunen, Verbänden oder Bürgerinitiativen getragene und auch das privatwirtschaftliche Handeln, das auf die Erreichung von innerer (und damit auch sozialer) Sicherheit und subjektiv empfundener Rechtssicherheit zielt. Demnach sind Polizisten ebenso am Polizieren beteiligt wie Richter, ‘Schwarze Sheriffs’ ebenso wie ‘Sky-Marshals’, Bürgerwehren sowie Sicherheitswarte, Jugendgerichtshilfen ebenso wie street-worker und natürlich auch Detektive und Body-Guards.
Gerade durch die Ausweitung des Handlungsfeldes ‚Polizieren’ auf die vorbeugende Verbrechensbekämpfung entstanden und entstehen zusätzlich völlig neue Kontrollfelder, die im Rückgriff auf den ‘normalen’ Bürger von zum Teil völlig neuen Kontrolleurstypen betreut werden. Und auch die Hinzuziehung privater Sicherheitskräfte trägt zu einer bis dahin nicht gekannten Kontrolldichte des öffentlichen Raums bei. Die zu verzeichnende fortschreitende vertikale und horizontale Vernetzung der einzelnen Kontrollinstanzen dient der Effektivierung der sozialen Kontrolle auf der präventiven wie auch auf der repressiven Ebene.
Schwerpunkt der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Wandels der sozialen Kontrolle ist dessen Auswirkung auf die Produktion von Sicherheit’. Im Zentrum stehen bei solchen Unternehmungen – wie z.B. auch in der Veranstaltung „Wandel sozialer Ordnung und sozialer Kontrolle und die Produktion von Sicherheit” der Sektion „Soziale Probleme und soziale Kontrolle” – die Wirkung des Strukturwandels auf die Struktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens im allgemeinen und auf die des gesellschaftlichen Sicherheitsgefüges im besonderen. Im Vordergrund stehen aus dieser Perspektive in erster Linie der soziale Nutzen und die sozialen Kosten, die der Gesellschaft aus dem Strukturwandel der sozialen Kontrolle entstehen. So geht es z.B. um die Ablösung der wohlfahrtsstaatlichen durch eine individualistische, die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen betonende Sicherheitspolitik und die Folgen dieses Konzeptwechsels für das Verständnis und die Gestaltung von innerer und sozialer Sicherheit; es geht um die Ausweitung der sozialen Kontrolle auf den präventiven Bereich und die damit verbundene Entgrenzung von privatem und öffentlichem, von formellem und informellem Rahmen; es geht aber auch um die Frage der Verantwortlichkeit für die Gewährleistung von Sicherheit in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen etc.
Aber auch dort, wo der sicherheitssoziologische Diskurs im engeren Sinne verlassen und nach den Folgen des Wandels der sozialen Kontrolle für das handlungsorientierende Wissensgefüge der Gesellschaft gefragt wird – wie beispielsweise im Rahmen der Veranstaltung ‚Beobachtungsgesellschaft’ der Sektion ‚Wissenssoziologie’ – steht die gesellschaftliche Wirkung (zudem thematisch eingeschränkt auf den Überwachungsaspekt), die ein solcher Wandel nach sich zieht, im Vordergrund.
Im Hintergrund solcher Betrachtung bleiben dabei allerdings meist die Handlungsprobleme, die sich für die Kontrolleure selbst aus dem Strukturwandel der sozialen Kontrolle ergeben und die sie alltäglich zu bewältigen haben. Das neu strukturierte und ausdifferenzierte Handlungsfeld ‘Soziale Kontrolle’ ist bislang erst in Ansätzen aus der Sicht der Kontrolleure bzw. aus der Sicht der ‚Polizierer’ betrachtet worden.
Gerade eine solche, auf die Handlungsprobleme dieser Polizierenden gerichtete handlungs- wie strukturtheoretische Analyseperspektive verspricht einen tiefenschärferen Einblick zum einen in die strukturell vorgegebenen institutionellen Handlungsrahmen und zum anderen in die aus diesen Rahmen erwachsenen, von den Akteuren intendierten und nichtintendierten zwangsläufigen Kontrollhandlungen und deren konkrete Folgen für die Sicherheitsgestaltung. Deshalb regen wir an, im Rahmen einer Ad-hoc-Gruppe den Strukturwandel der sozialen Kontrolle eigens mit dem Blick auf das Handlungsfeld ‘Polizieren’ aus der Sicht der Polizierenden zu thematisieren und empirisch wie theoretisch aufzuarbeiten.

Eine Ad-hoc-Gruppe „Empirische Polizeiforschung – der Strukturwandel des ‚Polizierens‘ aus der Sicht der Polizierenden” wird sich u.a. mit folgenden Fragen beschäftigen:

(1) Zum ‘Polizieren’ in speziellen Handlungsfeldern:
Welche Handlungs- und Darstellungszwänge ergeben sich aus der Marktorientierung für die Akteure privat-kommerzieller Sicherheitsdienste und in welchen Handlungsformen werden diese Zwänge von ihnen bewältigt?
Wie wirkt sich die Institutionalisierung der informellen Sozialkontrolle im Rahmen der bürgervigilanten Sicherheitsdienste und das Zusammenspiel dieser Dienste mit der Polizei auf die Konstruktion von strafrechtlich relevantem Verdacht aus?
Vor welchen Problemen stehen die Mitglieder kriminalpräventiver Räte bei ihren Bemühungen um einen Abgleich ihrer zum Teil erheblich divergierenden Grundpositionen und Interessenlagen, und zu welchen Formen sicherheitspräventiver Maßnahmen führen diese problembeladenen Aushandlungsprozesse?
Welche Veränderungen und Verschiebungen ergeben sich aus den verschiedenen Formen der diversionsorientierten Informalisierung des Strafrechts für die Aushandlungspositionen der Beteiligten, und wie werden diese Positionen von den Beteiligten ausgefüllt?
Welche neuen Koalitionen bzw. Oppositionen sind zwischen den Akteuren des Polizierens zu beobachten?

(2)  Zu übergreifenden Aspekten des ‘Polizierens’:
Wie haben sich das ‘Polizieren’ oder einzelne Formen des ‘Polizierens’ in den letzten Jahrhunderten gewandelt?
Wie hat sich das ‘Polizieren’ seit dem 11. September gewandelt?
Wie hat sich durch die neuen Formen des ‘Polizierens’ das gesellschaftliche Konzept von Rechtssicherheit und (Rechts-)Ordnung gewandelt?
Kann ‘Polizieren’ als ein eigenständiger Grenzbereich gefaßt werden, den eine ‘Soziologie des Polizierens’ systematisch untersucht?
Mit welchen theoretischen Konzepten (z.B. dem der Gouvernementalität) lassen sich die neuen Formen des ‘Polizierens’ beschreiben?

Die geplante Ad-hoc-Gruppe „Empirische Polizeiforschung: Der Strukturwandel des ‚Polizierens‘ aus der Sicht der Polizierenden” wird – dem Thema entsprechend – von einem interdisziplinären Gremium aus Soziologen (PD Dr. Thomas Ohlemacher), Kommunikationssoziologen (Prof. Dr. Jo Reichertz, PD Dr. Norbert Schröer), Kriminologen (Dr. Susanne Krasmann, Prof. Dr. Karlhans Liebl) und Politologen (PD Dr. Hans-Jürgen Lange) beantragt. Die Veranstaltung wird in Zusammenarbeit mit dem „Interdisziplinären Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS)“ durchgeführt.

Jo Reichertz / Norbert Schröer

Essen, den 01.12.2001
 
 

Bibliographischer Hinweis:

Texterstellung: 01.12.2001

Aktuelle Fassung: 02.05.2002

Zitiervorschlag: AKIS (Interdisziplinärer Arbeitskreis Innere Sicherheit) 02.05.2002: Empirische Polizeiforschung: Der Strukturwandel des ‚Polizierens‘ aus der Sicht der Polizierenden. Antrag auf die Einrichtung einer Ad-hoc-Gruppe zum Soziologie-Kongress 7.-11. Oktober 2002 in Leipzig, Marburg/Essen, Internet: www.ak-innere-sicherheit.de

Kontakt zur DGS-Ad-hoc-Gruppe:

Prof. Dr. Jo Reichertz / PD Dr. Norbert Schröer
(Sprecher der Ad-hoc-Gruppe Empirische Polizeiforschung in der DGS)

Universität -GH- Essen
FB 3, Fach: Kommunikationswissenschaft
45117 Essen

Tel.: 0201 / 183-34 47
Fax: 0201 / 183-37 39

E-Mail: norbert.schroer@uni-essen.de

Kontakt zum AKIS:

Prof. Dr. Hans-Jürgen Lange
(Sprecher des AKIS)

Rhein-​Ruhr-​Institut (RISP)
AKIS-​Geschäftsstelle I
Heinrich-​Lersch-​Straße 15
47057 Duisburg

Zentrales Telefon, Fax und E-Mail:
Tel.: 0203 / 933 14 - 63 (Lange)
Tel.: 0203 / 933 14 - 61 (Petersen)
Fax: 0203 / 933 14 - 62 (Büro)

E-Mail: hans-juergen.lange@uni-due.de